Offener Chemieunterricht mit digitalen Medien

Offener Unterricht: Da fällt Ihnen was ein. Freiarbeit, Stationenlernen, Wochenplanarbeit, Lernfirma vielleicht. Ihnen kommt auch sofort der Begriff „Beliebigkeit“ in den Sinn. Beliebigkeit als Schlagwort, mit dem Ansätze offenen Unterrichts abgewertet werden sollen, kommt als Vorwurf insbesondere von denen, die immer noch glauben, „gymnasialer“ Unterricht sei nur gut, wenn der Lehrer an der Kreidetafel steht, redet, redet, banale Fragen stellt und so „alle Schüler zum Lernziel führt“. Die Frage, welcher Unterricht „besser“ ist, kann also jeder für sich klar und auch immer falsch beantworten. Denn es kommt nicht auf Schlagworte an, sondern darauf, dass der Unterricht lernwirksam und zeitgemäß (besser: zukunftsfähig) ist. Lernwirksam ist Unterricht, wenn…

  • die Lernausgangslage der Schüler (eigentlich: jedes einzelnen Schülers) geklärt wird, das Vorwissen aktiviert = nutzbar gemacht wird, Vorstellungen geklärt und aufgezeigt werden. Und wenn all dies konkret im Unterricht genutzt wird, angefangen bei der Planung („Antizipation“). Zentraler Bedeutung kommt hier aber zwei Aspekten zu: Erstens der Diagnose (und der konkreten, unmittelbaren, „flexiblen“ Nutzung der Diagnoseerkenntnisse), Zweitens der unbedingten Beachtung der Tatsache, dass die Lernausgangslagen der Schüler eben nicht identisch sind. Schauen sie dazu die Abbildung unten auf der Seite an.
  • alle Schüler wissen, was wozu gelernt werden soll, was die Ziele sind, „wohin es geht“.
  • Die verschiedenen Ausgangslagen, Fähigkeiten, Schwierigkeiten, Interessen, Lernzugänge… der Schüler immer als Ausgangs- und Wegpunkte des Lernens beachtet werden. Heterogenität – Differenzierung. Je mehr Differenzierung, desto besser für die Schüler. Heterogenität sollte in dem Sinne als Chance genutzt und nicht als Problem gesehen werden.
  • Immer Inhaltliche Klarheit herrscht.
  • Klar ist, was eigentlich genau gelernt werden soll. Einfach ist es, abprüfbares Wissen („Stoff“) zu lehren, mit Arbeitsblättern, Lückentexten usw. „Totes Wissen“ wird dazu manchmal gesagt, „Bullimielernen“ ist ein anderes schönes Wort dafür. Was ich nicht sagen will ist, dass Schüler gar nichts mehr wissen sollen. Aber man muss sich klarmachen, dass Wissen immer nur in einem klaren inhaltlichen und funktionalen Zusammenhang sinnvoll ist. Entscheidend ist also nicht, das PSE auswendig zu lernen, sondern zu wissen, wie man die Valenzelektronenzahl des Sauerstoffatoms ermittelt und wann/ wozu/ in welchem Zusammenhang diese Information notwendig ist.
  • Kompetenzen, Fähigkeiten, Können, auch Haltungen sind zentrale Lerninhalte. Kann der Lehrer im reinen lehrerzentrierten Frontalunterricht oder anhand von Arbeitsblättern „vermitteln“, wie man ein Modell zur Erklärung eines Sachverhalts entwickelt und erklärt? Kann auf diese Weise „vermittelt“ werden, wie auch nur der Gasbrenner eingeschaltet wird? Sie wissen es besser: Lernen funktioniert nur im eigenen Kopf, und der wird angesprochen, wenn selbst gedacht, gemacht, probiert, diskutiert… werden muss. Man kann als Lehrer also notwendige Informationen geben, man kann zeigen, vormachen…, die Fähigkeiten müssen aber von den Schülern selbst entwickelt werden. Darum braucht Unterricht hohe Anteile schülerorientierter Arbeitsformen, die zu hoher Aktivierung bei (hoffentlich) allen Schülern führen.
  • Strukturen vorhanden sind. Jeder Lernweg muss abgegrenzt sein, Sicherheiten bieten. Das heißt nicht, dass die Schüler an der Leine über den Weg gezerrt werden sollen – dabei wird nicht gelernt. Aber es muss verschiedene Abzweigungen, Umwege, Stolpersteine, Ruheplätze usw. geben, damit jeder Schüler den passenden Weg gehen kann. Die Struktur gibt (am Anfang deutlich, dann mit zunehmenden Fähigkeiten der SchülerInnen immer weniger) der Lehrer vor. Er sorgt aber auch dafür, dass Schüler immer mehr lernen, Strukturen selbst zu entwickeln, Wege zu planen, Fragen zu stellen, Vorgehensweisen zu strukturieren, geeignete Arbeitsweisen zu wählen…Klare Prozesse.
  • Lernwirksamer Unterricht zielt darauf ab, den Lehrer irgendwann überflüssig zu machen. Er setzt aber nicht voraus, dass der Zustand schon erreicht ist.
  • Lesen Sie auch mal Hilbert Meyers „Was ist guter Unterricht?“. Die 10 Merkmale helfen bei der Klärung dessen, worauf es wirklich ankommt.

Die Aufstellung oben ist nicht vollständig. Aber sie zeigt uns etwas: Lernwirksamer Unterricht, der jedem Schüler Lernfortschritte ermöglicht, kann nicht für alle Schüler identisch sein. Ich finde: Je mehr Freiräume Sie ermöglichen, desto leichter fällt Differenzierung. Vielseitige Zugänge, Materialien, Lernprodukte, Aufgaben, Denkweisen, Niveaus… ermöglichen, dass viele Schüler gut lernen können. Offener Unterricht in dem Sinne, wie ich ihn verstehe, ermöglicht genau das. Er ist also gerade nicht beliebig, sondern beachtet gezielt die Bedürfnisse vieler Schüler, zielt gleichzeitig darauf ab, die Schüler zu immer mehr Eigenständigkeit zu befähigen.

Und „zeitgemäß“ – was ist das?
Schauen sie sich die Welt außerhalb der Schule an. Digitalisierung. Agilität, ständiger Wandel, unklare Anforderungen wegen schneller Entwicklung. Dort nicht unterzugehen, sondern zurechtzukommen, mit der Überfülle klarzukommen, kritisch zu denken, mit anderen zu kooperieren und zu kollaborieren, sich selbst weiterentwickeln zu wollen und zu können, sowie zu können, was Computer nicht können – Unterricht, in dem Schüler die dafür notwendigen Kompetenzen lernen, der ist zeitgemäß.

Was hat das mit digitalen Medien zu tun?

Die digitalen Medien ermöglichen uns in der Unterrichtsgestaltung ein hohes Maß an Vielfalt.
Ziel muss es sein, Digitalisierung als Realität zu erkennen alle Kompetenzen zu erwerben, die im Zeitalter der Digitalisierung notwendig sind. (Zum Einlesen empfehle ich „Routenplaner #digitale Bildung“ vom Krommer u.a.)

  • Materialien: Kurze Videos, Animationen, Sachtexte auf verschiedenen Niveaus und mit verschiedenen Intentionen, Erklärvideos, auch game-based-learning…
  • Lernprodukte: Präsentationen, Erklärvideos, Fotostorys, Comics, Ebooks, Whiteboards, Filme, blog, wiki…
  • Einfache Bereitstellung, Strukturierung, Verfügbarkeit: Taskcards, iServ, Lehrer-Homepage, wiki… Zum Beispiel für das Üben: Chemische Reaktion Taskcards oder als Sachinfo, die zum Unterricht passt.
  • Das heißt aber nicht, dass nur noch digital gearbeitet werden soll: Denken Sie an Versuche, Modellierung, Bücher (schöne Sachbücher), Plakate auf Papier usw. Auch was das Leseverstehen angeht, ist es sinnvoll, im Moment von Vorteilen eines gedruckten Materials auszugehen (zum Weiterlesen, mein Tipp). Anders gewendet: Bringen Sie ihren Schülern Strategien zur Erschließung digitaler Materialien bei!
  • Kompetenzen: Kommunikation, Kollaboration, Kreativität, kritisches Denken, usw. (Schauen sie sich die „4K“ oder die „8C“ an zum Weiterdenken.

Lernen dann alle, was sie wollen?

Zumindest werden sie dazu in die Lage versetzt. In der Schule haben wir das KC und andere Vorgaben, die Orientierung bieten. Es ist also keine Frage der Offenheit, die Schüler wählen zu lassen, ob sie den differenzierten Atombau lernen wollen. Aber wie sie den lernen, da gibt es doch viele Wege. Die Kerninhalte (eigentlich: Kernkompetenzen) sollen alle Schüler lernen. Aber die Zugänge dazu, die Lernwege, die Anwendungsbeispiele, die Übungen, die Form der Lernergebnisse… da können Sie lernwirksam nutzbare Freiräume (=Offenheit) schaffen. Haben Sie bitte im Hinterkopf, dass die KC dem „Buchzeitalter“ entstammen und mithin nicht auf die Förderung von Kompetenzen aus dem Bereich „Digitalzeitalter“ abzielen. Das müssen sie ergänzen bzw. umdenken, insbesondere, weil die KC dem Auftrag nach fachspezifisch sind, sie aber immer auch den schulgesetzlichen Bildungsauftrag umsetzen müssen.

Ist der Lehrer dann überflüssig?

Im Gegenteil. Die Planung und Vorbereitung offener bzw. geöffneter Unterrichtsphasen ist aufwändig. Während des Unterrichts sind sie auch immer gefordert. Es ist nicht so gedacht, dass die Schüler arbeiten und der Lehrer zockt am ipad. Sie sind gefordert, zu beobachten, Lernfortschritte, Schwierigkeiten usw. wahrzunehmen (Diagnose), spontane Lösungen für auftretende Probleme zu entwickeln, Schüler hinsichtlich der Qualität ihrer Zwischenergebisse zu beraten, Weiterentwicklungen anzuregen, mögliche Wege aufzuzeigen, Prozesse zu klären, zu strukturieren, weiterdenken der Lernprozesse anzuregen, Ressourcen auf Schülerseite zu erkennen und nutzbar zu machen… aber nicht: Ergebnisse vorzusagen. Also: Diagnose, Feedback, Steuerung. Meine Lieblings-Lehrerrolle, die hier gut passt: Der Lehrer als Ermöglicher. Ich finde: Der Lehrer muss zuerst die „Rotstiftmentalität“ ablegen. Diese Art von Unterricht werden Sie nicht ertragen, wenn sie immer nach Fehlern suchen. Suchen Sie nach Stärken, Potentialen, Gelingendem – und geben Sie dazu Feedback.

2 Kommentare zu „Offener Chemieunterricht mit digitalen Medien

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